Presseerklärungen

Kabinettbeschluss „Eckpunkte zur Modernisierung des Strafverfahrens“

Presseerklärung der Strafverteidigervereinigung NRW

Die Bundesregierung hat nicht einmal zwei Jahre nach der letzten Novellierung des Strafverfahrens und der StPO erneut Gesetzesänderungen für den Strafprozess auf den Weg gebracht.

Die Strafverteidigervereinigung NRW e.V. lehnt sowohl die angestrebten Maßnahmen des Eckpunktepapiers, als auch die Begründung für die Änderungen überwiegend ab. Hiermit sind ein weiterer Abbau von Beschuldigtenrechten und Eingriffe in den Grundrechtsschutz verbunden.

Begrüßt wird die Bündelung der Nebenklagevertretung, die dringend erforderlich ist, um Verfahren für die Justiz organisatorisch überhaupt noch handhabbar zu machen. Ebenso begrüßenswert ist die Harmonisierung für Qualitätsstandards für Gerichtsdolmetscher.

Zu den Eckpunkten der Bundesregierung im Einzelnen:

1. Allgemeines

Die Strafprozessordnung ist bzw. war ein ausbalanciertes System, das eine Machtkontrolle und die Verhinderung vorschneller Verurteilungen, die Ermittlung der Wahrheit in gesetzlich geregelten, förmlichen Bahnen und die Sicherung der Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten gewährleisten sollte und auch gewährleistete. Seit Jahren wird einseitig zulasten der Mitwirkungs- und Schutzrechte des Beschuldigten das Gesetzesgefüge verschoben. Justitias Waage hat schon lange eine Schlagseite.

Strafrecht wird seit langem von der Politik missbraucht:  als Heilsversprechen für gesellschaftliche Probleme, als Ablenkung des Volkes wie im Circus Maximus und als Profilierungsfeld für Politiker.

Dabei ist der Blick für Fakten schon lange verloren gegangen.

Immer neue Straftatbestände, immer höher gesteigerte Strafrahmen, immer neue Eingriffsbefugnisse der Ermittlungsbehörden führen zu einer vorhersehbaren Mehrbelastung der Justiz. Trotz seit Jahren sinkender Zahlen in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik ist die herbeigeredete Verbrechensfurcht so groß wie nie. Die Politik bietet für die selbst herbeigeredete Angst der Bevölkerung Lösungen durch mehr Strafe und Rechteabbau im Strafprozess an.

Wo wird das enden? Gibt es bei dem Hunger nach mehr Strafe, immer schnelleren und effektiveren Verfahren irgendeine Grenze? Das Eckpunktepapier der Bundesregierung bedient den Rausch nach härterem, schnellerem und symbolischen Vorgehen. Dies ist das Ergebnis geschickter Lobbyarbeit von weder demokratisch, noch sonst legitimierten Zusammenkünften wie dem „Strafkammertag“. Es ist ein Beispiel für post-faktische Politik.

2. Sprache des Eckpunktepapiers

Die „Modernisierung“ des Strafverfahrens wird sprachlich in der Bewertung von Verteidigung recht deutlich: Die Möglichkeiten, die Hauptverhandlung zu „obstruieren“,  „können unterbunden werden“. „Verschleppungsabsicht“ soll leichter unterstellt, die Überprüfung dieser Wertung soll dem Rechtsmittelgericht entzogen werden. Dem Gericht, dem unter anderem die Beurteilung darüber zusteht, ob ein Strafverfahren frei von Verfahrensfehlern stattgefunden hat. „Verfahrensfremde Zwecke“ und „missbräuchlich gestellte Beweisanträge“ gehören auch zum Bild von Verteidigung, die das Eckpunktepapier zeichnet.

Die Bundesregierung beschreibt in Ergänzung zum Feindstrafrecht eine feindliche Verteidigung, die Obstruktion betreibt, missbraucht, verschleppt und eingedämmt werden muss. Es muss „unterbunden“ werden.

Dieses Bild lässt mit der vom Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen konturierten gesetzlichen Aufgabe der Verteidigung in einem Rechtsstaat nicht zusammenbringen. Die Divergenz entsteht nicht etwa, weil tatsächlich, nachweisbar und sachlich berechtigt (anstatt nur gefühlt) die Verteidigung in relevantem Umfang die Rechte der StPO missbrauchen würde. Die Divergenz entsteht, weil eine professionelle, rechtskundige Verteidigung, die die bestehenden Verfahrensrechte gebraucht, als unerträglicher Störfaktor betrachtet zu werden scheint.

Dies lässt sich weder mit den grundgesetzlichen Verfahrensgarantien und dem Postulat eines fairen Verfahrens vereinbaren. Die Justizministerin gibt vor, dass Maßnahmen gegen eine effektive Verteidigung nicht in die Beschuldigtenrechte eingreifen würden. Die Behauptung der Ministerin bei der Präsentation des Eckpunktepapiers auf der Internetseite des BMJV, „Die Rechte der Beschuldigten bleiben dabei selbstverständlich gewahrt“, ist rein logisch mit der Forderung nach Änderungen zu Lasten des Beschuldigten nicht in Einklang zu bringen. Indem Rechte von Verteidigern eingeschränkt werden, werden gleichzeitig die Rechte derjenigen eingeschränkt die sie verteidigen; die Beschuldigtenrechte.

Verteidigung soll den vorschnellen Griff der Justiz nach der vermeintlichen Wahrheit verhindern. Das ist nicht feindlich und bekämpfenswert, sondern verfassungsrechtliche Errungenschaft eines Rechtsstaats.

3. Verfassungsrechtliche Bedenken

Die Vorschläge zur Vereinfachung des Befangenheitsrechts, zur Beschränkung des Beweisantragsrechts und zur Vorabentscheidung für Besetzungsrügen begegnen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

Der Verfassungsgrundsatz des gesetzlichen Richters und die Rechtsweggarantie werden unzulässig beschränkt.

Ungeachtet der Frage, wie die Beschränkungen für den Rügevortrag im revisionsgerichtlichen Verfahren tatsächlich umgesetzt werden sollen, eröffnet der Entwurf der Bundesregierung Tatgerichten kontrollfreie Räume, die zu Grundrechtseingriffen ohne jegliche Rechtschutzmöglichkeit führen. Dies lässt sich mit dem Grundgesetz und verbindlichem EU-Recht nicht vereinbaren.

4. Die Erosion der Beschuldigten- und Bürgerrechte geht weiter

Die geplanten weiteren erheblichen Einschränkungen im Beweisantragsrecht bringen das Gefüge der Kräfte im Strafprozess endgültig aus dem Gleichgewicht. Die „Modernisierung“ soll weiteren richterlichen Machtzuwachs um den Preis der Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten bringen. Tatrichter sollen – ohne jegliche Furch vor Kontrolle ihrer Einschätzungen durch ein Rechtsmittelgericht – abschließend selbst entscheiden, ob das, was der Beschuldigte zur Wahrung seiner Rechte oder sein Verteidiger als verfassungsrechtlich gewollter Kontrolleur im Verfahren tut, nur (oder auch) der Prozessverschleppung dient. Der Richter bekommt die Lizenz zur Festlegung guter und böser Motive der Rechtsverfolgung der Person, die er anschließend im Namen des Volkes verurteilen (äußerst selten freisprechen) wird.

Wenn die Bundesregierung die tatsächliche Erfolglosigkeit von Befangenheitsanträgen als Argument dafür nutzt, dass sich aus der tatsächlichen Erfolglosigkeit bereits der Nachweis missbräuchlicher Nutzung ergäbe, werden wichtige Aspekte bei der Betrachtung des gesetzlichen Gefüges rund um Befangenheitsanträge übersehen:

– der/ die Richter, die über Befangenheitsanträge zu entscheiden haben, rücken in den meisten Fällen im Falle eines begründeten Gesuchs an die Stelle des abgelehnten Richters. Sie entscheiden also zugleich in der Regel darüber, ob sie sich selbst mehr Arbeit auferlegen möchten.

– Befangenheitsanträge sind oft das einzige Mittel, den Gang der Verhandlung so zu dokumentieren, dass hierauf später revisionsrechtliche Rügen gestützt werden können. Eine Einführung der audio-visuellen Dokumentation der Hauptverhandlung würde wahrscheinlich 90 % aller Befangenheitsanträge überflüssig machen.